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Günther Oberhollenzer

 

DIE NATUR DER KLEINEN DINGE
 
DIE SCHÖNHEIT DES UNSCHEINBAREN IN DEN
WERKEN VON ALEXANDRA KONTRINER

Pferdebremse und Fleischfliege, Bockkäfer und Laubheuschrecke, Osterluzeifalter und Tagpfauenauge: Dutzende Insekten aus unserer unmittelbaren Alltags­ und Lebenswelt hat Alexandra Kontriner in akribisch genauen wie poetisch­-sinnlichen Zeichnungen zu Papier gebracht. Die »kleinen Kreaturen«, wie sie die Künstlerin nennt, sind Tiere, die von uns kaum wahrgenommen oder, wenn doch, wohl eher als lästig oder gar widerlich und abstoßend empfunden werden. Durch die Künstlerin werden wir sie ganz neu sehen.

Über die Zeichnung hat Kontriner ihre Liebe zur Natur wiederentdeckt, die unmittelbare Naturerfahrung ist ihre wichtigste Inspirationsquelle und Forschungsgrundlage. Ein Tagpfauenauge, gefunden auf einem Flohmarkt, gab die Initialzündung für die zeichnerische Auseinandersetzung mit der vielfältigen Welt der Insekten. Die Künstlerin arbeitet immer vor dem Original. Ausgangspunkt sind Fundstücke, zufällig zu Hause, bei Spaziergängen in der Stadt oder am Land entdeckt, manchmal von Freunden zugetragen oder auch bewusst gesucht, etwa im Naturhistorischen Museum in Wien, wo sich Kontriner einmal wöchentlich in der Vogelsammlung zum Zeichnen einfindet. Und so gesellen sich zu den Insekten auch Vögel, ein Zaunkönig, ein Pirol oder auch der Schädel eines Steinadlers, gelegentlich aber auch Pflanzen, die verdorrte Blüte einer Orchidee, die Samen des Ahornbaumes oder ein verblühender Kamillestrauch.

Die Tiere sind – bis auf wenige Ausnahmen – in unseren Breiten heimisch und bereits tot, wenn sie Kontriner für ihre Kunst auserkoren hat, manchmal sehen wir auch nur Fragmente, wie etwa die Flügel eines Schmetterlings, einer Fliege oder eines Vogels. In Originalgröße und mit dem forschenden wie neugierigen Blick einer Wissenschaftlerin hält die Künstlerin sie fein säuberlich fest und entreißt ihre Körper der Flüchtigkeit des Moments, dem drohenden verwesenden Verfall. Die hohe zeichnerische Konzentration bei gleichzeitig kontemplativer Arbeitsweise scheint in den zarten wie fragilen Körpern gespeichert. Auch glaubt man, die lange Beschäftigung mit dem Tier, die investierte Zeit, zu spüren. Die Blätter strahlen Ruhe und Stille aus und doch – oder gerade deshalb – ist die morbide Schönheit der Vergänglichkeit allgegenwärtig. Dies zeigt sich bisweilen auch in der Auswahl der Motive, etwa mit dem Totenkopfschwärmer, einem Nachtfalter, der aufgrund seiner imposanten Erscheinung und dem namensgebenden Totenkopf auf dem Thorax lange Zeit als unheilbringend galt, oder dem Stieglitz, einer Finkenart, die wegen ihrer Vorliebe für Disteln und der Färbung ihres Kopfes in der christlichen Ikonografie ein Symbol für den Leidensweg Jesu Christi darstellt. Besonders berührend ist das Bild des Steinadlerbabys, das beim Schlüpfen gestorben ist und so für Kindheit und Alter, für das erwachende Leben und den vorgezeichneten Tod gleichermaßen steht. In den Darstellungen der wie auf dem Seziertisch liegenden Insekten und Vögel klingen aber auch ganz aktuelle Fragestellungen an – wie jene nach der biologischen Vielfalt innerhalb und zwischen den Arten und Ökosystemen (Biodiversität) oder dem akuten Insektensterben durch die menschlichen Umwelteinflüsse, durch Umweltverschmutzung und ­-zerstörung.

Kontriner zeichnet mit hartem Bleistift und Aquarellfarben auf vorgeprägtem Büttenpapier. Neben der Glätte des Blattes reizt die Künstlerin die dadurch hervorgerufene optische Täuschung, erscheinen die Arbeiten doch wie ein Druckwerk und lassen einen so trefflich über die Frage nach Original und Kopie, Realität und Abbild reflektieren. »Grundsätzlich kann jedes Bild als eine Täuschung betrachtet werden«, betont Kontriner, »wir sehen nicht Tiere auf meinen Bildern, sondern nur den subjektiven Blick eines Menschen auf die Natur.« Die Zeichnungen bestechen durch ihre Schlichtheit und zurückhaltende Geste, kein ornamentales Beiwerk stört unseren Blick, kein aufwendiges Setting gibt den Tiermotiven eine zusätzliche Bedeutung. Der Leerraum ist wesentlich und bildprägend. Nur einige fein gezogene Linien verorten Vogel, Käfer oder Fliege auf dem weißen Blatt. Die Künstlerin lässt von Experten definieren, um was für Insekt oder um welchen Vogel es sich handelt. Die Klassifizierung ist gleichzeitig der Titel der Arbeit, auf der Rückseite des Bildes stehen neben der Bezeichnung des Tieres auch Ort und Zeit, wo und wann dieses gefunden wurde. Das alles lässt natürlich an naturkundliche Untersuchungen und Aufzeichnungen von Flora und Fauna aus vergangenen Jahrhunderten denken, auch der Titel der Werkserie Insektarium (Schaukästen zur Haltung von Insekten) weist in diese Richtung.

Seit Langem ist es das Bestreben des Menschen, die Natur erfassbar zu machen, sie zu strukturieren und festzuhalten, zu kartografieren und katalogisieren. Jede Pflanze, jedes Tier wird akribisch untersucht und abgezeichnet, fotografiert, benannt und klassifiziert. Die Sehnsucht nach Ordnung, nach einem möglichst genauen Ergründen der Natur kennzeichnet auch Kontriners Zeichnungen. »Ich brauche die Symmetrie«, so die Künstlerin, »die geometrischen Strukturen, die Formen und Raster«. Diese sind in ihren Zeichnungen zwar nicht dominant, aber als zarte Hintergrundfolie stets spür­ und oft auch sichtbar. Das Motiv liegt immer in der Mitte des Blattes, das Licht kommt (von wenigen Ausnahmen abgesehen) von rechts und lässt die Untersuchungsobjekte zarte Schatten auf das Papier werfen, die Geraden, Rechtecke und Quadrate fassen das Tier, erweitern es, positionieren es auf dem weißen Grund. Letztendlich verlange die Komposition nach dem Raster, erzählt Kontriner, dieses habe in erster Linie ästhetische Gründe, sie reagiere auf das, was das Bild von ihr verlangt (so wird etwa der Flügel des Spechts oder die Körperform des Stieglitzes mit abstrakten Linien fortgeführt). Deshalb möchte sie ihre Arbeiten auch nicht einseitig nur als zitathafte Verweise an die Tradition wissenschaftlicher Studienzeichnungen verstanden wissen, bleiben sie doch – so genau sie auch gezeichnet sein mögen – vor allem ein subjektiv emotionaler Ausdruck einer Künstlerin, der aus ihrem Innersten kommt und zu Papier gebracht werden will.

Als Betrachter stehe ich vor den Werken und verspüre einen Zauber, ohne mir diesen genau erklären zu können. Was macht diese Kunst so besonders? Ist es das ungemein handwerkliche Geschick – mit beinahe nur unter dem Mikroskop wahrnehmbaren zeichnerischen Linien –, die feinen Gliedmaßen und Körper festzuhalten? Oder die lustvolle Abneigung und doch auch Faszination gegenüber den hier zu sehenden toten Tieren und ihrem augenscheinlichen Verfall? Wohl beides. Für mich ist es aber besonders auch dieses kindliche Staunen vor der Schönheit der Welt, das wir so oft verlernt haben. Für ein kleines Kind ist jede Blume, jedes Insekt, jedes herbstlich vergilbte Blatt ein Wunder, das die ganze Welt bedeuten kann. Wir fühlen uns dann oft bemüßigt zu sagen: »Das ist doch nichts!« Doch, das ist sehr wohl etwas, wir sehen es oft aber nicht mehr. Die leisen Zeichnungen Kontriners können als Inspiration dienen, das Vergessene wiederzufinden. Sie schärfen unseren Blick und lassen uns die Natur der kleinen Dinge neu erkennen und wahrnehmen. Und so entdecken wir das Wunder unserer Welt im Unscheinbaren und Alltäglichen, die Faszination am angeblich Hässlichen und Morbiden, die Schönheit von Vergänglichkeit und Tod.

Thomas-Roman Eder

 

DIE BILDER VON ALEXANDRA KONTRINER

 

Ihre Modelle sind verwelkte Pflanzen, Falter aus Schmetterlingskästen, tote Fliegen vom Fensterbrett, der Panzer eines Hirschkäfers, den sie beim Spazieren findet. Die Natur im Zustand des Absterbens und Zerfallens, Materie kurz vor der Auflösung, der letzte Schritt des ewigen Kreislaufs als Motiv und Inhalt ihrer Bilder wird bis ins Detail fotografisch genau und in Originalgröße wiedergegeben.

Alexandra Kontriner scheint Momente der Vergänglichkeit vor dem endgültigen Vergehen bewahren zu wollen. Sie hebt filigrane Zeugen gewesenen Lebens auf, arrangiert sie, setzt sie in Beziehung zueinander. Die Verletzlichkeit wird als beschädigter Körper, eingerissener Flügel oder fehlender Fühler dargestellt, so als würde etwas nicht mehr Vorhandenes gezeigt oder darüber hinaus gedeutet werden: auf Vereinzelung, Einsamkeit, Verlust. 

Bisweilen baut sie winzige Embleme in die Körper ihrer Tiere ein, Symbole für Vergänglichkeit, Leben und Tod. Skizzierte Raster und strenge Perspektiven unterwerfen die Darstellung der Natur einer formalen Ordnung und zeigen das Interesse der Künstlerin am Verhältnis von Gegebenheit und Prinzip, Natur und Mensch. Sie gibt der Symbiose Vorrang vor dem Gegensatz. 

Das Aufbrechen und Hinterfragen von Denkmustern und Sehgewohnheiten steht bei ihren Fotomontagen im Mittelpunkt. Sie lässt Quallen über Gebirgszügen schweben, einen Riesenmistkäfer in eine Landschaft voller Windräder stürzen, Schwanenhälse sich wie Schlangen winden. Die Komponenten der Montagen sind klar erkennbar, in ihrer Überschneidung erzeugen sie unerwartete, spannende, manchmal provokante Effekte. Fotografie als Technik spielt dabei keine Rolle. Das Medium ist bloß Mittel zum Zweck, weshalb sie seit 2009 mit einer Handykamera aufnimmt. 

Der Blick des Kindes, beobachtend, staunend, fragend, die Faszination für – im wahrsten Sinne des Wortes – „verrückte Dinge“, das Aufspüren des Verlorenen, die Entdeckung des Großartigen im Kleinen, des Absoluten im Unscheinbaren prägen den künstlerischen Ausdruck von Alexandra Kontriner. 

[Thomas-Roman Eder]

 

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